"Hier kann überhaupt nicht von einer Sonderbehandlung die Rede sein", François Biltgen au sujet du dossier Tessy Scholtes

Luxemburger Wort: Herr Biltgen, gab es eine Sonderbehandlung für Tessy Scholtes beim Amtsantritt im Parlament? Wird der Politikerin der Lehrer-Stage geschenkt?

François Biltgen: Hier kann überhaupt nicht von einer "Sonderbehandlung" die Rede sein! Bei Frau Scholtes wurde, genau wie bei allen Staatsbediensteten vor ihr, entsprechend den Bestimmungen des Wahlgesetzes und insbesondere des Artikels 129 gehandelt. Diesbezüglich gibt es im Übrigen keinen plausiblen juristischen Grund, Stagiare im öffentlichen Dienst anders zu behandeln als irgendeinen Staatsbediensteten. Das Wahlgesetz betrifft übrigens jeden, der ein Gehalt vom Staat erhält, ob Staatsbediensteter, Staatsarbeiter oder Eisenbahnbeamter.

Luxemburger Wort: Was genau sieht das Gesetz in einem Fall. wie diesem vor? Gibt es präzise Bestimmungen, oder handelt es sich um eine Interpretation des Gesetzes?

François Biltgen: Jeder, der ein Gehalt vom Staat erhält, ist automatisch bei der Annahme eines Abgeordnetenmandats "demissionär" und darf folglich auch nicht mehr in seiner Verwaltung arbeiten. Die Ursache liegt darin, dass der Gesetzgeber es als nicht gut erachtet, dass jemand der ein Gehalt vom Staat erhält, über sein eigenes Gehalt und Statut abstimmen dürfte. Um es ihm trotzdem zu erlauben, sein Abgeordnetenmandat auszuüben, erhält er während der Dauer des Mandats ein Wartegehalt berechnet auf der Basis von 66,66 Prozent seines letzten Gehaltes. Und hier liegt das eigentliche Problem! Während ein Staatsbediensteter am Ende seiner Dienstkarriere keine Einbußen in Bezug auf seine Laufbahn und somit seiner Entschädigung in Kauf nehmen muss, stellt sich die Situation für einen jüngeren Staatsbediensteten ganz anders. Er würde de facto seiner Aufstiegs- und Beförderungschancen während der Dauer seines Mandats beraubt. Deshalb hat der Gesetzgeber vorgesehen, die Laufbahn des jeweiligen Staatsbeamten sich weiter so entwickeln zu lassen, als ob er normal im Dienst wäre; inklusive aller Promotionen.

Luxemburger Wort: Wer hat entschieden, wie das Gesetz im Fall Scholtes ausgelegt werden soll? Gibt es ein Dokument? Sind die Argumente öffentlich zugänglich?

François Biltgen: Frau Scholtes wollte, bevor sie das Mandat annahm, wissen, ob sie während der Ausübung des Mandats ihren Lehrstage weiter ausüben könnte, um somit ihre berufliche Laufbahn nicht in Gefahr zu bringen. Das Ministerium für die öffentliche Funktion wurde mit einem juristischen Gutachen beauftragt. Es gibt drei Gesetze, jenes des "stage pédagogique", jenes des Staatsbeamtenstatuts und das Wahlgesetz. Die beiden ersteren geben keine Auskunft über die Situation der Stagiaire, so dass lediglich Artikel 129 des Wahlgesetzes eine Antwort bringen konnte. Der Minister für öffentliche Funktion hat am 13. April 2011 ein juristisches Gutachten an den Premierminister mit Kopie an die Unterrichtsministerin geschickt. Am 29. April 2011 hat der Regierungsrat, nach eingehenden Diskussionen festgestellt, dass es auf Grund der aktuellen Gesetzgebung keine andere Interpretationsmöglichkeiten gibt. Die juristische Schlussfolgerung unseres Gutachtens lautet wie folgt: "Le raisonnement à la base de ces dispositions est de toute évidence le souci de ne pas léser l'agent public dans l'évolution de sa carrère professionnelle qu'il aurait continué s'il n'avait pas accepté le mandat. Cette approche implique en toute logique que l'intressé doit se voir dispenser de toutes les conditions d'avancement ou de promotion prévues pour l'évolution de sa carrire alors qu'il se trouve démis de ses fonctions antérieures au mandat (fonctionnaire, employé, ouvrier ou stagiaire) et qu'il ne peut partant plus se soumettre aux épreuves normalement prévues. A défaut de dispense dans le sens qui précède, la garantie d'évolution "normale" de la carrière serait dépourvue de sens et Mme Scholtes se verrait bloqué pendant toute la durée de son mandat à la même indemnité de stage, sans aucune chance d'avancement, de promotion ou à des chances d'annales/biennales."

Luxemburger Wort: Ist Tessy Scholtes vor diesem Hintergrund ein Einzelfall?

François Biltgen: Nein! Frau Scholtes ist kein Einzelfall. Seit 1968 konnten alle gewählten Staatsbediensteten diese Bestimmungen, für die Dauer ihres Mandats, für sich in Anspruch nehmen.

Luxemburger Wort: Drängt sich nicht eine Überarbeitung der gesetzlichen Regeln aus, die definieren, wie die Laufbahnen von öffentlichen Bediensteten verlaufen, wenn sie ein Abgeordnetenmandat annehmen?

François Biltgen: Selbstverständlich! Artikel 129 wurde des öfteren als Staatsbeamtenprivileg abgetan. Allerdings muss man wissen, dass vor 1968 die Staatsbediensteten implizit davon abgehalten wurden, ein Abgeordnetenmandat anzunehmen. Deshalb sollte man jetzt nicht den Mann oder besser gesagt die Frau spielen, sondern den Ball und man sollte das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Ich schlage deshalb vor, über zwei mögliche Gesetzesänderungen zu diskutieren.

Sollte man nicht einem Staatsbediensteten die Möglichkeit geben, seine Ausbildung innerhalb eines Stages oder einer Probezeit abzuschließen und erst dann als Abgeordneter während der Mandatsdauer aus dem Staatsdienst auszuscheiden?

Man könnte auch Artikel 129 jediglich auf diejenigen Staatsbediensteten anwenden, die in der Tat, mit der Ausübung der nationalen Souveränität befasst sind (dies würde z. B. die Lehrer nicht betreffen). Beide Vorschläge werfen allerdings auch eine ganze Reihe juristischer Fragen auf. Ich wäre deshalb froh, wenn die Abgeordnetenkammer, denn es handelt sich um die Frage, wer Abgeordneter sein kann, sich sine ira et studio, das heißt eingehend und unaufgeregt über das Thema aussprechen könnte.

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